Wir hatten es also tatsächlich geschafft, wir hatten alle Hürden genommen und befanden uns endlich im Iran. Hatten wir uns drei Tage zuvor noch bei Schneefall über den Pass in Armenien gequält, so schien am Tag der Grenzüberschreitung eine gleißende Sonne. Keine einzige Wolke war am Himmel zu erkennen. Genau wie das Wetter schien sich auch die Landschaft abrupt zu ändern. War die Gebirgslandschaft in Armenien von saftigem Grün und üppiger Vegetation geprägt, tat sich im Iran eine trockene karge Felslandschaft auf. Die Vegetation beschränkte sich auf verdorrte Sträucher und Büsche, lediglich Flusslauf, der Armenien und den Iran voneinander trennt, war von einigen Bäumen gesäumt. Es war gerade so, als hätte man eine unsichtbare Linie überschritten, jenseits derer sich alles änderte landschaftlich, klimatisch, kulturell. Es war kein seichtes Herantasten an die neue Umgebung, es war ein knallharter abrupter Einstieg in eine fremde Welt. Hatten meine rudimentären Russischkenntnisse in Armenien uns das ein oder andere Mal aus der Patsche geholfen, so blieb uns jenseits der Grenze nur übrig, wild zu gestikulieren und uns mit Händen und Füßen zu verständigen. Eddi hatte außerdem ein paar Brocken türkisch gelernt, das uns im hauptsächlich von Aserbaidschanern (Azeri) bewohnten Nordosten des Irans etwas weiterhalf. Azerbaijanisch und Türkisch sind zwar nicht dieselben Sprachen, aber zumindest konnten sie die wenigen Worte, die wir kannten, verstehen.
Die ersten beiden Tage zogen uns in die Berge des nordöstlichen Irans, den äußersten Ausläufern Kaukasus, eine einsame verlassene Gegend. Die Landstraßen zogen sich oft kilometerweit durch die Berge, ohne an einer Ortschaft vorbeikam. Nur hin und wieder kam uns ein Motorrad- oder Autofahrer entgegen. Für das Radfahren ist diese Abgeschiedenheit ideal. Man fährt den ganzen Tag in traumhafter Idylle und braucht sich über zu viel Verkehr den Kopf nicht zu zerbrechen. Am Abend schlägt man dann unweit der Straße sein Zelt auf und ist dabei völlig ungestört. Man kramt die Instantnudeln, das Brot oder was auch immer man gerade dabei hat aus der Tasche, isst zu Abend und steht am nächsten Tag früh auf. Dann setzt man sich auf das Rad und dasselbe Spiel beginnt von Neuem.
Wir hatten lediglich zwei Tage in den Bergen eingeplant, denn wir waren mit einem Warm-Showers Host in der beschaulichen nordiranischen Stadt Marand verabredet. Uns stand eine äußerst schwere Etappe mit knapp 2000 Höhenmetern, 90 Kilometern und einem anspruchsvollen Bergpass bevor. Selbst unter idealen Bedingungen wäre das eine äußerst ambitionierte Tagestour geworden. Im Laufe des Tages nahm der Wind allerdings dermaßen zu, dass wir nur wesentlich vorankamen, wenn wir uns völlig verausgabten. Es war äußerst frustrierend, sich voran zu quälen und schließlich feststellen zu müssen, dass man sich noch fast an derselben Stelle befand, wie kurz zuvor. Das Radfahren bei diesen Bedingungen machte keinen Spaß, es war die pure Plackerei, äußerst mühselig und anstrengend.
Die ersten Kilometer hatten wir dann einigermaßen überstanden. Je höher wir kamen, desto stärker wurde der Wind. Er blies uns direkt ins Gesicht. Wir traten doppelt so viel und kamen halb so weit. Am schlimmsten aber waren die Windböen, die eine solche Kraft entwickelten, dass sie uns wie Spielzeug durch die Gegend pusteten. Wenn man nicht im richtigen Moment Abstieg und sich mit voller Kraft gegen den Wind stemmte, dann fand man sich plötzlich zwei Meter weiter oder im Straßengraben wieder. Wenn wir also die Kontrolle über das Fahrrad behalten wollten, dann blieb uns nichts anderes übrig, als das schwere Fahrrad hundert Meter den Berg hinaufzuschieben. Selbst ohne Wind wäre der Pass eine echte Herausforderung gewesen, bei diesen Bedingungen war es ein Ding der Unmöglichkeit. Wir mussten uns eingestehen, dass wir den Naturgewalten nichts entgegenzusetzten hatten.
Wir befanden uns an einer besonders steilen Stelle des Passes, als uns ganz langsam ein Traktor mit Anhänger und leerer Ladefläche überholte. Auf dem Traktor befanden sich drei Arbeiter, die sich scheinbar auf dem Weg zu einer höhergelegenen Ackerfläche befanden. Ich hielt die drei an. Sie verstanden gleich, in welcher prekären Lage wir uns befanden und signalisierten, wir sollten Räder auf die Ladefläche hieven und sie würden uns ein Stück mitnehmen. Wir luden unsere Räder auf den Anhänger und es konnte losgehen.
Nach etwa 20 Minuten auf dem Traktor hatten wir die Ackerfläche erreicht. Die drei Männer brachten uns noch ein Stück nach oben und machten dann kehrt. Wir waren ein gutes Stück vorangekommen, aber unser größter Feind, der anhaltende Wind war damit nicht verschwunden. Wir versuchten einige Meter zu fahren, aber hatten keine Chance. Wollten wir uns nicht in Gefahr begeben, von einer Windböe erfasst und einen steilen Abhang hinuntergepustet werden, dann blieb uns nichts anderes übrig, als weiterzuschieben. Einen Kilometer und 20 Minuten später waren wir so erschöpft, dass wir nicht weiterkonnten und auch nicht wollten.
„Dann lass uns doch einfach campen!“, sagte Eddi.
„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ entgegnete ich. „Hier oben wird es bitterkalt über Nacht und wie zum Teufel, wollen wir bei diesem verdammten Wind unser Zelt aufschlagen? Die Heringe und Plane werden sonst wo hin geweht.“
„Hast du etwa eine bessere Idee? Wir können unmöglich unser Rad weiterschieben!“
„Vielleicht wird es besser, wenn wir über den Pass sind.“
„Vielleicht aber auch nicht.“
„Wir können aber auch wohl nicht davon ausgehen, dass das Wetter morgen früh besser wird, wenn wir hier übernachten.“
Wir einigten uns darauf, dass wir unser Zelt aufbauen würden, sofern wir eine geeignete Stelle fänden und uns ansonsten Schritt für Schritt weiter den Berg hinaufarbeiteten. Eine geeignete Stelle ließ sich hoch im Gebirge aber kaum finden, stattdessen schoben wir unsere Räder weiter und fuhren, sofern es die Bedingungen einigermaßen zuließen. Nach einer weiteren halben Stunde, währenddessen wir frustrierend wenig vorangekommen waren, hielt Eddi an einer Haltebucht:
„Es hat keinen Zweck. Wir halten nochmal jemanden an.“
„Einverstanden.“
„Dahinten kommt einer dieser blauen iranischen Pickups mit leerer Ladefläche.“
Und tatsächlich, es funktionierte. Der Fahrer hielt an. Er war regelrecht froh zwei Radreisenden aus der Patsche zu helfen und freute sich über unsere Gesellschaft. Wir verfrachteten die Fahrräder auf die Ladefläche. Eddi setzte sich ebenfalls zu den Rädern. Er sollte darauf aufpassen, dass die Räder nicht wie wild hin und her purzelten und die Fahrt einigermaßen wohlbehalten überstanden. Mir hingegen kam die deutlich angenehmere Aufgabe zu, den Fahrer etwas zu unterhalten und mich für die Mitfahrgelegenheit herzlichst zu bedanken. Ich setzte mich daher nach vorne auf den Beifahrersitz.
Die Kabine machte auf mich den Eindruck eines persischen Wohnzimmers. Kleine gold-rote Bommel hingen von der Decke und die Wände waren mit Teppich ausgepolstert. In der Mitte der Armatur der Fahrerkabine befanden sich drei Figuren: Eine Schnecke, deren Häuschen gleichzeitig einen Behälter für Süßigkeiten darstellte, ein Wackeldackel, dessen Kopf bei der Fahrt wie wild hin und her schaukelte sowie eine bizarre Pumuckl-Figur, die den Eindruck erweckte, als entstammte sie aus einem Horrorfilm. Ein fahrendes persisches Wohnzimmer mit speziellem Touch.
Der Fahrer war wahnsinnig freundlich. Leider kann ich mich an seinen Namen nicht mehr erinnern, aber klang persisch oder türkisch. Unsere Kommunikation war sehr warmherzig und heiter. Obwohl wir uns kaum verständigen konnten, waren wir doch beide froh, ein paar wenige Worte wechseln zu können. Ich erzählte ihm (jedenfalls hoffte ich, dass er es verstand), dass wir bereits Tausende Kilometer aus Deutschland mit dem Fahrrad gefahren seien und bislang jeden Pass gemeistert hatten. Lediglich dieser Pass, erzählte ich weiter, hätte uns zum Aufgeben gezwungen. Der Mann lächelte, gerade so, als wäre er sich der harschen Bedingungen in dieser Gegend sehr bewusst.
Er wirkte ruhig und gelassen. Ein krasser Kontrast zu seinem Fahrstil. Unter Missachtung jeglicher Geschwindigkeitsbegrenzung ging es zunächst den Pass hinauf und eben so schnell wieder hinunter. Ich hoffte inständig, dass er genau wusste, was er machte. Ich griff neben mich, um vergeblich nach einem Gurt zu suchen. Immerhin beruhigt mich der Gedanke etwas, dass der Gurt ohnehin nicht mehr viel bringen würde, wenn wir von der Straße abkämen. Neben uns klaffte ein tiefer äußerst furchteinflößender Abgrund. Immer wieder wich der Fahrer Schlaglöchern aus und fuhr dabei bis weit auf die Gegenfahrbahn. In dem Moment bangte ich, dass kein Gegenverkehr um die Ecke geschossen kam. Der Wackeldackel auf der Armatur wirbelte sein Kopf wild umher. Ich hüllte mich in tiefes Schweigen, denn ich wollte ihm keinen Anlass geben, seine Aufmerksamkeit von der Straße zu lenken. Bei jedem Schlagloch, dem wir nicht ausweichen konnten, schepperte es auf der Ladefläche und ich konnte nur erahnen, was Eddi gerade durchmachte. Er saß auf keiner federnden Polsterung und musste jedes Schlagloch am eigenen Leib spüren.
Nach nicht einmal einer halben Stunde hatten wir den Pass hinter uns gelassen. Der Fahrer hielt, da er in eine andere Richtung weitermusste. Wir bedankten uns, machten ein Selfie und verabschiedeten uns bei unserem Schutzengel mit Bleifuß. Fest steht, dass wir ohne ihn, den Pass kaum hinter uns gebracht hätten, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit und vielleicht dort oben bei widrigsten Bedingungen hätten übernachten müssen. Insofern waren wir heilfroh, dass er uns mitgenommen hatte.
Im Tal hatte der Wind tatsächlich stark nachgelassen, sodass wir endlich wieder Radfahren konnten. Die letzten Kilometer waren dann schnell hinter uns gebracht und wir erreicht mit Einbruch der Dunkelheit Marand. Joscha, unser Warm-Showers-Host, hatte zwar bereits zwei Reisende bei sich aufgenommen und daher kein Platz mehr zuhause, aber er zeigte uns eine, wie er es formulierte, einfache Unterkunft und lud uns für den nächsten Tag zu seiner Familie nach Hause ein.
Die Unterkunft war ein schäbiges heruntergekommenes Guesthouse. Die Betten bestanden aus einer passend geschnittenen Styroporplatte mit fleckigen Lacken und einer löchrigen Decke. Toilette und Dusche sahen aus, als läge die letzte Reinigung sehr lange Zeit zurück. Alles wirkte unsauber und ungepflegt. Trotz dessen, wir waren froh eine sichere Bleibe für die Nachtgefunden zu haben. Ich legte meine Isomatte über das Bettlacken, die löchrige Decke beiseite und murmelte mich in meinen Schlafsack. Ich konnte kaum mehr denken, bis ich bereits eingeschlafen war. Wir waren nun wirklich im Iran und sollten bald herausfinden, was das denn eigentlich bedeutete.
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